Alicia Carotta ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin, die sich performativ in superlativen, hyperüberwachten Environments bewegt. Die multi-sensuellen Erfahrungen lässt sie in ihren Körper einschreiben, übersetzt und collagiert sie zu manipulativen Souvenirs.

Forschungsprojekt: Microcurrents



Alicia Carotta: Breath Cruise Tales (Videostill)



Alicia Carotta: Breath Cruise Tales (Videostill)






Alicia Carotta: Microcurrents
Videoinstallation: Video Breath Cruise Tales (3:16 Min.), schwarzer Glassand, Liegestühle, Chapbook
Ausstellungsansichten von GBB_edits #
Fotos: Graduiertenschule für Bewegtbild




Alicia Carotta: Breath Cruise Tales (Videostill)





Als superlative Auswüchse der globalen Tourismusindustrie bedienen Kreuzfahrtschiffe das Begehre nach Mobilität, Konsum, Entertainment und Sicherheit. Vor allem aber sind sie Orte massiver Überwachung. Als nach außen abgeschottete Einheiten bewegen sich die fahrenden Städte wie mobile Hochsicherheitsanlagen durch internationale Gewässer.

Tourismus begann als Projekt des Kolonialismus und schreibt sich bis heute ideologisch als ein Narrativ fort, durch das privilegierte Tourist:innen die Welt (und sich selbst) ‘entdecken’. Mit dem Begriff “militarisierter Tourismus” beschreibt der Anthropologe Duccio Canestrini unverkennbare Parallelen und Verbindungen zwischen Tourismus und Kriegsführung¹: Angefangen vom Reisen als Köder für die Anwerbung von Soldaten während des ersten Weltkriege bis hin zu militärisch abgeriegelten Luxusferienanlagen in heutigen ‘Urlaubsparadisen’. Mittlerweile ist Mobilität von Sicherheitsvorkehrungen bestimmt, die an Flughäfen, Bahnsteigen und Landesgrenzen in Form von Videoüberwachung, Identitäts- und Sicherheitskontrollen teilweise auch vom Militär durchgesetzt werden.

In einer ungewöhnlichen Doppelrolle bewegte sich Alicia Carotta durch den hyper-überwachten Kosmos der größten Kreuzfahrtschiffe der Welt. Die Ausbildung zur Kosmetikerin verschaffte ihr Zutritt als Crewmitglied. Als Künstlerin wiederum wurde das Schiff zu ihrem Forschungsfeld, auf dem sie Architekturen und Abläufe in Settings professioneller Intimität untersuchte: Der Spa-Bereich ist auf Kreuzfahrtschiffen, neben der Krankenstation, der einzige Ort, an dem körperlicher Kontakt zwischen Crew und Passagieren erlaubt ist. Das Video Breath Cruise Tales greift Bewegungsabläufe einer kosmetischen Gesichtsbehandlung auf und verdichtet diese langsam zu einer hypnotischen Choreografie. Was hier mit den Händen nachempfunden wurde, wird im Kund:innenkontakt mit dem sogenannten Microcurrent durchgeführt. Der maschinelle Apparat sendet schwache Elektroimpulse in die Haut, um diese vermeintlich zu straffen. Diese Schönheitsbehandlung wird unter anderem dafür gehyped, dass sie nicht invasiv ist. Doch obwohl kein Skalpell zum Einsatz kommt, durchdringen die elektrischen Wellen den Körper, ähnlich wie bei den Scans, die Menschen mithilfe elektromagnetischer Strahlen an Flughäfen durchleuchten.

Das Bildmaterial, gedreht auf 16mm-Film, läss Spuren der Berührung erkennen, die im Kontakt zwischen Händen und Negativfilm entstanden sind: Fingerabdrücke, Kratzer, Schlieren getrockneter Wassertropfen. Diese Spuren beginnen sich ebenso zu überlagern, wie unterschiedliche Einstellungen von Handbewegungen und Kreuzfahrtschiffsszenerien, Stimmen und dem Meer, das in rhythmischen Wellen ins Bild fließt. Die weiblich gelesene Stimme beginnt mit behutsamen Instruktionen, die sich zunächst scheinbar mühelos mit dem Wellness-Setting in Einklang bringen lassen. Schon bald aber verdichten sich die Anweisungen zu einem Mantra und schließlich zu einem Chor, der das Ablegen schützender Barrieren bis hin zur Auflösung des (eigenen) Körpers fordert.

LET THE WIND
BLOW OFF YOUR HAT
LET THE WAVES
TEAR OFF YOUR GEMS

LET THE BACTERIA SPREAD
IN YOUR SYSTEM
LET THE DISEASE TAKE OVER
LET IT INVADE
LIKE YOU INVADED

Mit dieser Anleitung zur Durchlässigkeit, die einen Prozess der Zersetzung des Individuums und der Auflösung von Grenzen anschiebt, formuliert Alicia Carotta im Gedicht Breath (Cruise Tales) einen Gegenentwurf zu den territorialen Fantasien, die dem militarisierten Tourismus zugrunde liegen. Während die sanfte Gesichtsbehandlung sich durch die gesamte Bildebene zieht, entfaltet sich im Text eine Gewalt, die die Unbeschwertheit der Spa-Athmosphäre erschüttert. In den Begriffen Invasion und Zerstörung spiegeln sich die kolonialistischen Strukturen unter dem Schlaraffenland der Urlauber:innen. 

Text: Lisa Dreykluft, für die Publikation zur gleichnamigen Ausstellung GBB_edits #1

¹ Duccio Canestrini: Schießen Sie nicht auf den Touristen!, Zürich, Berlin 2006, S. 140-155