Chris Schnerr


Die Dekonstruktion von Männlichkeiten und im weiteren Sinne der vorherrschenden Geschlechterbinarität, die Suche nach einer Logik (der Materialien) kohärent zu der theoretischen und persönlichen Auseinandersetzung, die Aufarbeitung und Offenlegung der mehrgenerationalen, soldatischen Familiengeschichte und deren Täterschaft im Nationalsozialismus, das Bewusstwerden und Formulieren daraus resultierenden intergenerationalen Traumata und das Finden neuer Formulierungen von Eltern-sein bilden die Eckpunkte der künstlerischen Praxis von Chris Schnerr und seiner Forschung in der Graduiertenschule für Bewegtbild.



Forschungsprojekt: VVater



Chris Schnerr: VVater. Ausstellungsansicht von GBB_edits #1. Foto: Graduiertenschule für  Bewegtbild
“MEIN VATER HAT GESAGT, RUDOLF HESS¹ WAR BEI DER TAUFE SEINES VATERS. ER HAT GESAGT, ICH SOLL ES WIEDER VERGESSEN.”

Diese Erinnerung, die unmöglich zu vergessen scheint, markiert den Beginn einer Annäherung an die eigene Familiengeschichte und, damit verbunden, intergenerationale Fragen an Vaterschaft. Zentral für Chris Schnerrs Auseinandersetzung mit den biografischen und politischen Dimensionen dieser Recherche sind die sich wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit – die Frage, auf welchen Ideologien sie basieren und wie man sie dekonstruieren kann.

Klaus Theweleit analysiert in Männerphantasien anhand der sogenannten Freikorpsliteratur der Weimarer Republik ein Ideal des soldatischen Mannes, in dem der Faschismus bereits angelegt ist und das den Weg für den wenige Jahre später folgenden Nationalsozialismus ebnete.²

Die Gewalt, die diesem Verständnis von Männlichkeit zugrunde liegt, nimmt heute neue Gestalten an und zeigt sich unter anderem im zunehmenden Extremismus der Incel-Bewegung³ und ihren wachsenden Verbindungen zu White Supremacy-Ideologien. Theweleit greift in seinem Buch wiederkehrende Metaphern für das bedrohliche und zu bezwingende Andere auf: die rote Flut, der Sumpf der Republik, die Blutwelle. Im Flüssigen drohen sich Dinge miteinander zu vermischen, indem Landes- und Körpergrenzen überschritten werden – ein Gedanke, der dem faschistischen Reinheitsideal widerspricht. Der kommunistische Feind wird von den Freikorps ebenso wie die Frau als etwas Fluides und dadurch Unkontrollierbares dargestellt, dem es etwas entgegenzusetze gilt: Der soldatische Mann, den Theweleit beschreibt, zeichnet sich durch Härte und Standhaftigkeit aus. Er hat einen “Körperpanzer”, an dem die Fluten abprallen sollen. ⁴

Diesen Dualismus von hart und flüssig, der in der Gedankenwelt der Freikorps der klaren Trennung zwischen dem nationalistischen, männlichen Subjekt und seinen Bedrohungen dient, greift Chris Schnerr in seiner  Arbeit VVater durch die Materialauswahl auf: Beton, ein solider Stoff aus dem auch Bunker gebaut werden und Silikon, das unter anderem aufgrund seiner Elastizität für die Herstellung von Sex Toys verwendet wird, treffen in den kleinformatigen Wandobjekten aufeinander und vermischen sich. Beide Materialien sind zunächst flüssig, können aber durch die Verarbeitung unterschiedlich stabil, flexibel oder fragil werden. Die dünnen Betonschichten in den Arbeiten sind teilweise brüchig, die Formen des Silikons erinnern an Körperflüssigkeiten. In Textfragmenten finden sich Zitate und Gedanken zu Geschlechtsidentität und Elternschaft, die sowohl von Widerständigkeit als auch von Verletzlichkeit erzählen.

Der Schriftzug “Penis Trouble” ist in einem der Objekte in ungelenken Buchstaben in das pinkfarbene Silikon eingelassen: Der Penis ist in Schwierigkeiten – als veraltetes Symbol für Männlichkeit und Herrschaft in der hetero- und cis-normativen Logik noch immer weit verbreiteter Männerphantasien. Silikon ist schon lange Teil von Chris Schnerrs künstlerischer Praxis. In der Auseinandersetzung mit Körperlichkeit und queeren Sexpraktiken waren Dildos, die oft aus Silikon bestehen, immer
wieder Teil seiner Arbeit – als skulpturale Gebilde ebenso wie als Elemente einer partizipativen Performance. Paul B. Preciado schreibt dazu in seinem Kontrasexuellen Manifest: “Der Dildo ist der Virus, der die Wahrheit des Sexes korrumpiert. Der Dildo ist der rebellische Diener des Meisters (des Penis), er zieht dessen Autorität ins Lächerliche, indem er sich als alternativer Weg zur Lust anbietet.” ⁵

Die Arbeit VVater begegnet tradierten Männlichkeitsvorstellungen mit Humor und mit einer gewissen Fragilität und Zärtlichkeit. An die Stelle veralteter Praktiken harter Erziehung tritt eine Vaterrolle, die sich als
liebend und fürsorglich versteht. So tauchen in Chris Schnerrs Arbeit, inspiriert von kreativen Techniken seines eigenen Kindes, auch Materialien wie Glitzerkleber, Windowcolor und Buchstabennudeln auf. Während wir reaktionäre Backlashs gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt erleben, bleibt die Dekonstruktion von verhärteten Männlichkeitsidealen ein notwendiger und fortlaufender künstlerischer, persönlicher sowie gesellschaftlicher Prozess.

Text: Lisa Dreykluft,  für die Publikation zur gleichnamigen Ausstellung GBB_edits #1

¹ Rudolf Heß war Mitglied der NSDAP und wurde 1933 von Hitler zu seinem Stellvertreter in der Parteileitung ernannt.
² Klaus Theweleit: Männerphantasien, Berlin 2020.
³ Incel setzt sich aus den englischen Begriffen involuntary und celibate (dt. unfreiwillig und Zölibat) zusammen und ist die Selbstbezeichnung einer Gruppierung, die im US-Kontext in Internetforen entstanden ist. Incels zeichnen sich durch extreme Misogynie aus und sind der Meinung, ein natürliches Anrecht auf Sex zu haben, das ihne von den von ihnen gehassten Frauen verwehrt wird.
⁴ Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Matthes und Seitz. Berlin 2. Aufl. 2020 [1977/78], S. 283-305; 693-729
⁵ Paul B. Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin 2003, S. 63.




Chris Schnerr: VVater. Ausstellungsansicht von GBB_edits #1. Foto: Graduiertenschule für  Bewegtbild








Chris Schnerr: VVater. Ausstellungsansichten von GBB_edits #1. Fotos: Graduiertenschule für  Bewegtbild