Katrin Essers Kurzfilme sind futuristisch amutende Inszenierungen, die die Geschichte und Architektur eines spezifischen Ortes aufgreifen. In der intensiven Auseinandersetzung mit deren bereits existierenden dominanten Erzählformen entwickelt Esser Arbeiten, die die mit dem kollektiven Gedächtnis verwobenen Narrative und Vorstellungen dekonstruieren. Dabei wird die Bedeutung des jeweiligen Ortes für soziale, politische und psychologische Prozesse der Identitätsbildung erfahrbar. Ihre experimentellen Kurzfilme hinterfragen so den Zusammenhang von subjektiven und kollektiven Erinnerungen auf die Wahrnehmung der Gegenwart.

Esser absolvierte 2019 ihr Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig mit einem Diplom der Medienkunst (Klasse Expanded Cinema von Clemens von Wedemeyer). Zuvor hatte sie ihr Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an der Ruhruniversität Bochum und der Universität Dortmund abgeschlossen.

Ihre Arbeiten wurden auf diversen Festivals und Ausstellungen gezeigt, wie u.a. Kasseler Kunstverein, ARD Mediathek, Kasseler Dok Festival, Museum Dortmunder U, Goethe-Institut Peking (CHN), Filmfest Dresden, Halle 14 Spinnerei Leipzig, Taipei ConTemporary Art Center Taipei (TW), PACT Zollverein Essen, GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Blicke - Filmfestival des Ruhrgebiets oder Kunstquartier Bethanien Berlin.



Forschungsprojekt: Proxys

Darstellungen demenzieller Erkrankungen im Bewegtbild



Katrin Esser: THAT DRESS. Foto: Lucas Melzer



„Sie fragte mich, warum die Zeit gesprungen ist. Ob ein Buch etwas ist, das man öffnen kann. Ich dachte an die Einsamkeit von David Bowie, als er vom Himmel fiel”,

erscheint in gelber Schrift, während die Kamera langsam über ein rotes Plüschtier gleitet. Nachdem sich die Künstlerin und Filmemacherin Katrin Esser bereits in den vorherigen Arbeiten ihrer Zeit in der Graduiertenschule für Bewegtbild (GBB) an der Kunsthochschule Kassel mit den Themen Alzheimer, Erinnern und Vergessen auseinandergesetzt hat, gelangt sie nun in der Arbeit „Proxys - Part I" zum umfangreichsten und wohl persönlichsten Teil des Werkkomplexes. Katrin Esser inszeniert in dem essayistischen Dokumentarfilm die Geschichte ihrer Mutter, die an Alzheimer erkrankt und verstorben ist. In drei Kapiteln erzählt sie von ihrer Mutter, den Arbeitsbedingungen der Pflegerin Violetta und dem Tod.

In ihrer Abschlussausstellung der Graduiertenschule für Bewegtbild der Kunsthochschule Kassel zeigt Katrin Esser das erste Kapitel des Films in einem Loop. Fragmentarisch reihen sich Erzählungen aneinander, die Wohnung der Eltern dient als Schauplatz, und das Medium Film hinterfragt Erinnerungen und deren Konstruktion. Besonders eindrücklich ist ein Rückblick auf einen Filmdreh mit den Eltern, bei dem die Mutter bereits Unsicherheiten zeigt, was auf Unverständnis bei der Tochter stößt. „Ich hatte es bemerkt, aber nicht verstanden”. Schicht für Schicht legt Katrin Esser Erinnerungen frei und kreiert dabei eine neue Geschichte. Objekte der Vergangenheit entwickeln ein surreales Eigenleben, so wird eine Felldecke wie lebendig und Seiten eines Buches blättern selbst wie von Geisterhand. Wenn Worte Vergangenes nicht fassen können, erinnern sich die beiden Frauen, Violetta und Katrin, durch Bewegungen an die Zeit der Pflege der Mutter.

Das Haptische und das Greifbar-machen von so etwas Abstraktem wie Erinnerung oder Vergessen zieht sich durch Katrin Essers Werkkomplex, der an der Graduiertenschule entstanden ist. Die andere Arbeit der Ausstellung, „THAT DRESS", beschäftigt sich mit dem verloren gegangenen Lieblingskleid ihrer Mutter. Eine Schneiderin rekonstruiert das gepunktete Kleidungsstück, Esser beobachtet durch die Kamera den Prozess. Gleichzeitig sucht sie in alten Familienaufnahmen nach Fragmenten der privaten Geschichte.

Katrin Essers Arbeit zeichnet sich durch eine sensible und aufmerksame Herangehensweise aus. Sie erhebt nicht den Anspruch, durch das Medium Film oder scheinbar „dokumentarische" Bilder eine Vergangenheit rekonstruieren zu wollen, sondern hinterfragt gerade das Medium Film als solches und zeigt, dass Erinnerung oder das Vergessen sehr individuell sind. Leerstellen und Platzhalter befragen die Macht oder Ohnmacht über ein Narrativ. Diese Fragestellungen zogen sich schon als roter Faden durch frühere Arbeiten, die innerhalb ihrer künstlerischen Forschung entstanden sind. Wie stellen Menschen ihre eigene Vergangenheit dar, welche Erlebnisse bleiben und bilden eine Identität? So erzählt ihr Vater Peter im gleichnamigen Film von seinen Erfahrungen auf hoher See. Während es in „Peter" (2022) darum geht, wie die Summe unserer Erlebnisse unsere Persönlichkeit formt, handelt Essers Kurzfilm „FUZZY" (2022) von einer Forscherin, die demente Katzen sucht und hinterfragt dabei die Grenzen zwischen Fürsorge und Freiheitsentzug.

Als humanistische und gleichzeitig politische Filmemacherin thematisiert Katrin Esser in ihren Arbeiten menschliche Schicksale. Als Ausgangspunkt für ihre Forschung fungieren insbesondere bei
"Proxys - Part I" und "THAT DRESS" ihre persönlichen Geschichten. Esser schafft es, diese gleichzeitig so intim und dennoch nahbar zu erzählen, sodass sie die Betrachter:innen dazu einlädt, sich auf eher schwer zu verarbeitende Themen wie Verlust und Tod einzulassen. Die zusätzliche Einbindung von Violetta und ihren Erfahrungen ermöglicht es, eine wichtige Stimme hörbar zu machen. So funktionieren Essers Arbeiten als Andockstelle für die Betrachterinnen und öffnen Gesprächsräume für individuelle Erlebnisse genauso wie gesellschaftspolitische Fragestellungen.

Text: Joey Arand, für die Publikation GBB_edits #2

Proxys - Part I
Regie / Drehbuch / Montage: Katrin Esser
Kamera: Tommy Scheer
Licht / Color Grading: Benjamin Weu
Dolmetscherin / Untertitel: Monika Mosler
Sound Design: Jonas Weu
Katrin Esser: Proxys - Part I (Videostills)
Film, 4K, 11 Min. Loop, 2023



Katrin Esser: THAT DRESS
2-Channel 5:30 Min. Loop, Single Channel 16 Min Loop,  Dekorfolie, PVC-Folie, Holz, Acrylglas, Kleid
Ausstellungsansichten von crossfading | bodies: digitale Echos, analoge Schatten im Kasseler Kunstverein, 2023.
Fotos: Lucas Melzer