Tobi Sauer wurde 1991 in Fulda geboren. Von 2012 bis 2020 studierte er Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel, in der Klasse Film und bewegtes Bild. Seine Kurzfilme, darunter „Handbook“ (2014), „Simba in New York“ (2016), „Portrait Wang Bing“ (2017) und "Unglücklichsein" (2018), decken ein breites Spektrum essayistischer, dokumentarischer und experimenteller Formen ab, wobei die Auseinandersetzung mit Literatur, Film-/Mediengeschichte und Geschichte im Allgemeinen eines der wiederkehrenden Elemente ist. Sie wurden bei Festivals, z.B. Filmfest Weiterstadt, Stuttgarter Filmwinter, Festival de Cine de Huesca und IndieLisboa gezeigt. Preise erhielten sie z.B. beim Lichter Filmfest Frankfurt und beim Festival La Cabina in Valencia. „Die Kafka-Konferenz" (2021) ist der erste lange Dokumentarfilm.


Forschungsprojekt: Piraten Kanal Kassel Live



Tobi Sauer: Piraten Kanal Kassel Live. Videostill
Es gilt als wesentlicher Grundzug demokratischer Gesellschaften, dass die öffentlichen Medien wie Presse und Rundfunk durch Berichterstattung und öffentliche Diskussion das politische Geschehen beeinflussen können. Wie sehr diese Medien, denen informell oftmals der Titel der vierten Gewalt verliehen wird, ihrer Rolle als Korrektiv unter dem Einfluss von Machthaber:innen, Lobbyismus und wirtschaftlicher Faktoren tatsächlich entsprechen, ist freilich umstritten. Als Gegengewicht zum öffentlichen Rundfunk wiederum haben sich Piratensender, die ohne Lizenz oder auf „gekaperten“ Frequenzen ausstrahlen, imme wieder den Normierungsprozessen eines ideologischen Mainstreams widersetzt und setzten auch möglicher juristischer Verfolgung zum Trotz ihre gesellschaftlichen und kulturellen Anliegen um.

Tobi Sauer, der in seinen Arbeiten immer wieder Film- und Mediengeschichte sowie deren Einfluss auf Politik und Gesellschaft untersucht, startete im Sommer 2022 einen Aufruf, um Mitstreiter:innen zu finden: Im Rahmen der Ausstellung A Many-Headed Hydra der Graduiertenschule für Bewegtbild, die im temporären Kunstraum Havarie.space auf dem stillgelegten Passagierschiff Stadt Kassel im September 2022 stattfand, wollte er eine Fernsehshow inszenieren. Unter dem Namen Piraten Kanal Kassel fand sich schließlich eine Gruppe von Künstler:innen und Musiker:innen zusammen, die am Abend des 23.09.2022 eine Show auf dem Oberdeck des Schiffes produzierte, die online im Livestream zu verfolgen war.

Dem vorausgegangen waren gemeinsame Recherchen und Dreharbeiten Sauers mit Silke Körber, welche sich mit der Idee eines noch nicht existierenden transeuropäischen Kanals beschäftigten, eines möglichen Fernsehsenders oder einer Internetplattform. Dieser sollte zum Ziel haben, verschiedene europäische Länder zu vernetzen, insbesondere solche, in denen die Medienvielfalt bedroht ist. Ein eigener öffentlicher Rundfunk der Europäischen Union fehlt nämlich nach wie vor. Die Ausstellung auf dem stillgelegten Passagierschiff bot nun die geeignete Kulisse für eine potentielle Pilotsendung – einer Live-Show zum Thema Europa. Die Verortung ließ gleich mehrere Assoziationen zu: Flüsse und Meere fungierten schon immer als Verbindungswege, markieren jedoch auch Grenzen und sind Schauplatz verschiedenster politischer, wirtschaftlicher und humanitärer Konflikte. Das Boot dient wiederum häufig als Metapher für Ein- und Ausschlussverfahren von Gesellschaften.

Um eine Vielstimmigkeit und die Möglichkeit eines Gegenentwurfs zu Narrativen des politischen und kulturellen Mainstreams zu erzeugen, musste das Projekt kollaborativ und divers gedacht werden. Neben der starken Einbindung von Musik, die als eine Sprache gesehen werden kann, welche über verbales Verständnis hinaus Verbindungen und Kommunikation herstellen kann, war das Einbeziehen der Zuschauer:innen ein zentraler Bestandteil der Show. Unter anderem fungierten Personen aus dem Publikum als Leser:innen von „Flaschenpost“-Texten, die im Vorfeld zufällig auf den Tischen platziert worden waren. Hierbei handelte es sich um Geschichten, die sich in der Zeit vor dem Event an Europas Küsten zugetragen hatten und die mitunter auf humorvolle Art unterschiedliche, die EU betreffende Themen aufgriffen. So handelte ein Text vom massenhaften Fischsterben in der Oder und der mangelhaften Kommunikation zwischen polnischen und deutschen Behörden während der Untersuchungen. Ein anderer Text erzählte davon, wie der während eines Adria-Urlaubs in Seenot geratene Viktor Orbàn, bekanntermaßen kein Unterstützer einer vielseitigen Presselandschaft, von einem Journalisten gerettet wurde. Das Spiel mit Fernsehkonventionen und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Unterhaltung (bzw. Infotainment) und Kunst wird an dieser Stelle besonders deutlich. Darüber hinaus wurde in den Wochen vor dem Livestream ein wechselndes Programm mit Filmen der Kollektivmitglieder und weiterer Freund:innen gezeigt – online auf der Ausstellungswebseite und im Havarie.space auf einem Fernseher, der im Steuerhaus platziert wurde.

Die potentiell subversive Rolle von Piratensendern scheint, vor allem seit Anfang der 1980er Jahre, in denen in Deutschland private Sender zugelassen wurden und sich die Medienlandschaft rapide vervielfältigte, der Vergangenheit anzugehören. Auch da heute mit geringem technischem und zeitlichem Aufwand verschiedenste Formate produziert und veröffentlicht werden können. Endlos wirkende Mengen an Videobeiträgen oder Podcasts auf Online-Plattformen oder Social Media-Kanälen, die unter den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie um Publikum buhlen, stellen Konsument:innen umso mehr vor die Herausforderung, zwischen Infor mation und Desinformation, Marketingstrategien und Populismus zu unterscheiden. Das medienaktivistische Projekt des Piraten Kanal Kassel, mit seinen vielstimmigen kritischen Beiträgen zeigt, wie künstlerische Strategien als politischer Kommentar genutzt werden können. Die Aufzeichnung wird in der Ausstellungshalle durch weitere Einspieler aus anderen europäischen Städten ergänzt. Laut Sauer ist eine Fortsetzung des Projektes mit weiteren Piratenkanälen an anderen Orten denkbar. Vor dem Hintergrund eines europaweiten Rechtsrucks ist das wertvoll und notwendig.

Text: Holger Jenss, für die Publikation zur gleichnamigen Ausstellung GBB_edits #1

Mit Beiträgen von: Sagaro Duda, Sevda Güler, Sophie Hilbert, Silke Körbe, Samuel Nerl, Tobi Sauer, Vessels (Stella Drechsler, Thea Drechsler, Cat Woywod), Tetyana Zolotopupova
Special Guests: ZK/U Citizenship (Elisa Georgi, Kristina Miller)
Technik-Team: Mikola Debik, Sevda Güler, Dumitru Malai, Samuel Nerl, Christoph Neugebauer
Grafik / PR: Saguaro Duda, Sophie Hilbert
Weitere Beteiligte: Nicole Alsleben, Hannan El Mikdam-Lasslop, Hakon Henning, Charlotte Hermann, Till Krüger, Giang Nguyen, Klara Schnieber, Simon Thomas, Jia You


Tobi Sauer: Piraten Kanal Kassel Live. Ausstellungsansicht  von GBB_edits #1. Foto: Graduiertenschule für Bewegtbild






Tobi Sauer: Piraten Kanal Kassel Live. Videostills



Tobi Sauer: Piraten Kanal Kassel Live. Ausstellungsansicht  von GBB_edits #1. Foto: Graduiertenschule für Bewegtbild


Auftritt von Saguaro Duda bei der Vernissage von GBB_edits #1, Videostill, Kamera: Christoph Neugebauer